Texte von Italo Valenti
Von meinem Onkel in Amerika habe ich einen Koffer voller Postkarten geerbt, die er von seinen weiten Reisen mit nach Hause gebracht hatte. Faul und sesshaft, wie ich bin, unternehme ich bis auf den heutigen Tag beim Betrachten dieser Postkarten die hurtigsten und wunderbarsten Reisen meines Lebens. In manchen dieser Karten hausen Zauberinnen (Schamanen), Wesen mit aussergewöhnlichen Kräften und Beziehungen zum Himmel wie zur Hölle. Sie bewirken Ekstasen, bringen die Seelen zur Welt, leben, sichtbar und unsichtbar, mitten unter uns. In den stärksten Augenblicken unseres Lebens fühlen wir sie nahe. Ihre Gegenwart ist schwer und unmittelbar. Sich vielleicht der Religion weihend, verglüht von Erotik und Geistigkeit, gelangen die Frauen mit den Jahren zu einem vollkommenen Dialog mit der Natur. Sie kleiden sich in die Farben der Nacht und das Licht des Tages, in Schwarz und in Weiss. Gewirkt aus Luft und aus Stille, leben sie reglos im Mittelpunkt ihrer Welt. Sie sind Mütter, Schwestern, Geliebte, Feindinnen Freundinnen, Jungfrauen und Tempeltänzerinnen. Sie riechen nach Gras, sie leben in den Gärten, in den Klippen der Meere, auf den Strassen, an allen Orten und zu jeder Zeit.
Valenti, Italo, DU – Die Kunstzeitschrift 3 | 1981, p.79
